Rio de Janeiro – Favela’s

„Bei einem Polizei-Einsatz in einer Favela der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro sind mindestens acht Menschen ums Leben gekommen. Es sei zu Auseinandersetzungen gekommen und die verletzten Kriminellen seien ihren Verletzungen erlegen. Sieben Gewehre, 14 Handgranaten, vier Pistolen und eine große Menge Drogen seien sichergestellt worden….“ 11.02.2022, 16:46 Uhr | dpa


Nur ein paar Tage vorher waren wir in einer Favela und wurden von militärisch bewaffneten Jugendlichen „angesprochen“. Grund genug, hier etwas über Favelas zu schreiben und von meinen eigenen Erfahrungen zu berichten.


Favela (portugiesische Bezeichnung für Armenviertel, Elendsviertel oder Slum) geht auf den Namen eines Hanges im Nordosten von Brasilien, dem „Morro da Favela“, zurück. Dort trägt eine typische Pflanze diesen Namen.

Slum, Township, Armenviertel, Favela – typische Bezeichnungen für Ansiedlungen armer Menschen, die aus dem Um- und Ausland kommend, nach dem Glück suchen, das sie in einer Großstadt zu finden hoffen. Cape Town, Johannisburg, Nairobi, Sao Paulo, Rio de Janeiro, New York … alle großen Städte haben diese Anziehungskraft.

Die Favelas sind Bereiche aus selbst gebauten Häusern. Sie befinden sich meistens illegal auf Landeigentum der Städte und umgeben wie ein Meer aus Hütten die Stadtränder. Diese Armenviertel sind überwiegend ungeplant, ohne nummerierte Straßen, Sanitäranlagen, Telefon oder Kanalisation. Es gab nie Genehmigungen oder Berechnungen zum Bau. Es wird kreuz und quer gebaut, angebaut, abgerissen. In den letzten Jahrzehnten sind die Favelas oft ein Ort von Drogenkriminalität und Bandenkriegen geworden.
Aus den Drogenbanden in Rio sind in den letzten Jahrzehnten schwer bewaffnete Organisationen geworden, die einen Großteil der Favelas mit ihren mafiaähnlichen Strukturen kontrollieren. Die Favelas bieten mit ihren engen Gassen und der schlechten Infrastruktur den idealen Zufluchtsort für die Banden. Die Stadt Rio ist damit geteilt in die Favelas, wo die Drogenbosse die Kontrolle haben, und die übrige Stadt, den Asfalto (den asphaltierten Teil), in dem die Gesetze des Staates gelten.

Durch die hohe Korruption im Staatswesen und der Brutalität, mit der Polizeigewalt durchgesetzt wird, fürchten viele Bewohner die Polizei mehr als die Drogenbanden. Letztere geben den armen Bewohnern eine Möglichkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wenn auch u.a. mit Drogengeschäften und Schutzgeldern. Drogenbosse agieren wie eine Art versorgender und schützender Kopf einer Mafiafamilie, obwohl es unzählige Versuche gibt, die Favelas zu sozialisieren. 
Die ärmeren Bereiche einer Favela befinden sich meist höher an den Berghängen, wo die Häuser nur noch zu Fuß zu erreichen sind.

Trotzdem sind die Favelas nicht zu vergleichen mit den Slums in afrikanischen Ländern. Auch deshalb, weil viele Bewohner in den letzten Jahren beim Abstieg aus der Mittelschicht, sich dort angesiedelt haben. Viele gehen ihren Tagesgeschäften im Dienstleistungsbereich nach und versuchen einfach dort ihr Leben zu leben. Schutzgeld, Abgaben, also ein adäquat zu den nicht gezahlten Steuern an den Staat, gibt man an die Drogenbosse, die es ggf. nachhaltig und brutal einfordern. An Straßenkreuzungen in Rio sieht man dann Menschen mit fehlenden Händen oder Füßen. Warnung an alle. 20% der eigenen Einnahmen als „Abgabe“ sind der Durchschnitt. Oder man bekommt „Aufgaben“ zugewiesen, rund um Drogengeschäfte dann wohl. Dadurch greifen die Drogenbosse auf eine Vielzahl von Jugendlichen zurück, die von Handlanger- und Dealertätigkeiten bis hin zu mit Militärwaffen ausgerüstet als eine Art Miliz agieren. Diese Jugendlichen versuchen durch „Loyalität und Zuverlässigkeit“ in den Hierarchien aufzusteigen.  Ein Zusammentreffen darf nie eskalieren. Sie lassen es garantiert nicht zu, im Viertel ihr Gesicht zu verlieren. 

Die Favelas fungieren also als Staat im Staate, kontrolliert von Drogenbossen und ihren Banden.

Wie auch in den afrikanischen Townships hat man aber auch in den Favelas erkannt, dass Tourismus Geld ins Viertel bringen kann und in den unteren Bereichen wird es durchaus zugelassen. Es empfiehlt sich aber nach wie vor, nur mit den wenigen, von den Favelas akzeptierten Guides, dort vorsichtig und freundlich als Besucher zu agieren. Favelas sind prinzipiell ein mehr oder weniger rechtsfreier Freiraum, Gesetze machen die Drogenkartells und Gesundheit und Menschenleben sind definitiv weniger Wert als in Europa. Das sollte man nie vergessen. Auch wenn am Eingang zu den Favela’s immer ein Polizeiwagen geparkt ist.


Nun zu meinen eigenen Erfahrungen.
Wir waren in der Favela Rocinha, die als größte Brasiliens gilt. Offiziell sollen dort 70.000 Menschen leben, aber man geht von ca. 160.000 bis zu 240.000 Einwohner aus. Niemand weiß das genau. Die Stadt versucht durch Sozialeinrichtungen, Schulen, Ärzten etc. in der Nähe der Favelas, die Menschen mehr in die Gesellschaft einzubinden. Es gibt viele Projekte sehr unterschiedlicher Art, einige staatlich und oft auch privat engagiert. Alles mit bisher überschaubaren Ergebnissen. Die Distanz zum Staat an sich ist einfach zu groß. Sozialer Abstieg, Enttäuschungen gegenüber Stadt und Staat, Korruption … Das alles trägt dazu bei, dass die Kluft erhalten bleibt. Und die Regeln der Drogenbossen sind einfach … und hautnah „spürbar“ ggf. umgesetzt..


Die Favela Rocinha liegt an einer Schnellstraße, über die eine Brücke des berühmten brasilianischen Architekten Niemeyer führt. Btw: die Brücke stellt einen weiblichen Po mit Tanga dar 🙂  Ach, diese Architekten immer 🙂

Niemeyer Brücke
Schnellstraße mit täglichen Staus direkt an der Favela
Eingang zur Favela Rocinha, die Motorräder agieren als Taxi in die oberen Bereiche

Das durchschnittliche Monatseinkommen der Bewohner beträgt nur ca. US $240. Das schnelle und ungeplante Wachstum der Favela hat einen Mangel an grundlegender Infrastruktur zur Folge. Es gibt natürlich Strom, wobei aber nur ca. 20% der Bewohner für diesen Strom auch wirklich zahlen. Die anderen 80% klemmen sich an diese Leitungen und „beziehen“ dann so ihre Energie. Ein Blick über die Straße lässt einen dieses Kabelgewirr wilder Leitungen wahrnehmen. Sanitäreinrichtungen fehlen oft in der Favela.

Stromkabel-Wirrwar

Arbeit vor Ort, Armut, Anpassung und Zwangsabgaben stellen also den Alltag vieler Bewohner dar. Die nahe Schnellstraße wurde so zu einer „guten Einnahmequelle“, denn es gab und gibt jeden Tag Staus, liegengebliebene Autos etc. Überfälle gehörten zum täglichen „Ritual“. Vor der Fußball WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016 hatte die Stadt Rio Angst, dass dies auch vielen Touristen passieren könne, die auf den Weg ins Olympische Dorf und zu den Sportstätten dort vorbeimussten. Man versuchte die Favela mit Polizeigewalt zu „befrieden“. Daraus resultierten wochenlange kriegsartige Zuständen mit Schießereien, Panzerwagen, regelrechten Feuergefechten etc. in der Favela – und zur militärischen Aufrüstung dieser. Diese Waffen sind heute Standard der Jugendbanden im Auftrag der Drogenkartelle.Leidtragende bis heute, die Anwohner und ihre vertiefte Skepsis gegenüber staatlicher Behörden allgemein, speziell gegenüber der Polizei.


Wir gingen mit unserem Guide Dirk also auf unseren, eher meinem :), Wunsch, in die Favela. Normalerweise ist fotografieren definitiv unerwünscht und ich rate auch jeden Besucher ab, es zu tun. Ein Smartphone in der Hand gilt prinzipiell in Rio immer schon mal als eine Art Einladung zum Raub. Das betrifft auch sichtbare Ketten und Uhren. Aber ich wollte trotzdem fotografieren und fotografiere ja auch immer. Gedanklich hatte ich mich, wie schon bei der fotografischen Begleitung der Unruhen in Santiago de Chile, darauf vorbereitet, mit auftauchenden Problemen irgendwie umzugehen. ICH war innerlich vorbereitet, meine Frau nicht.


Ich fotografierte mit einer Street-Fotografie Kamera, also keiner protzenden, großen Kamera sondern mit meiner Fuji X-E3 und das Ganze nicht heimlich, nicht hektisch, immer bewusst im Kontext zur Umgebung und die Menschen vorher fragend.

Trotzdem wurde ich jäh aus meinem fotografischen Blick gerissen, als ich mich nach einem Foto weiterbewegen wollte und urplötzlich von 4 Jugendlichen umringt war. Dirk und meine Frau standen vorher etwas abseits, als ich mit „Gringo“ und einem Schwall portugiesischer Worte zurechtgewiesen wurde. Bewaffnet mit einer schweren militärischen Schnellfeuerwaffe stand einer von ihnen fordernd aufgebaut neben mir und wollte wissen, ob ich brasilianischer Tourist wäre (ggf. weil diese Fotos leichter an Behörden weiterleiten könnten) und wieso ich auf die Idee käme, in ihrem Viertel überhaupt zu fotografieren (wahrscheinlich ohne ihre Einwilligung vorher einzuholen). Ich hatte sie vorher überhaupt nicht wahrgenommen, hatte sie in keinem eigenen oder fotografischen Blickwinkel. Sie waren einfach und plötzlich da. In einem Armenviertel, weit weg jeder sprachlichen Kompetenz, unter Drogen stehenden und schwer bewaffneten Jugendlichen gegenüberzustehen ist nicht ganz ohne … 🙂

Dirk erklärte, dass wir Deutsche sind und wir alle zu seinem Bekannten in der Favela wollten (dem bekannten Street-Art Künstler Wark Rocinha). Dies schien sie etwas zu beschwichtigen und nachdem dann ALLE meine Fotos kontrolliert wurden, ich ruhig und deeskalierend versuchte zu erklären, was ich fotografierte und warum, lies man uns gehen. Ich behielt Kamera, Smartphone, Geld in meinem Besitz und wurde reicher um eine intensive Erfahrung. Und die bewaffneten Jugendlichen waren wieder unsichtbar.


Wahrscheinlich waren wir zu einer Zeit an einem Ort, wo entweder Geld oder Drogen übergeben wurden. Oder es war das untrügliche Zeichen an alle im Viertel „Wir sind hier, wir sehen alles und euch. Wir haben das Sagen im Viertel. Nehmt euch nicht zu viele Rechte heraus. Fragt uns vorher.“ Oder wie und was auch immer.


Man muss ruhig bleiben und freundlich, nicht ängstlich, aber muss ggf. eben auch alles hergeben, wenn es verlangt wird. Gesundheit und Leben zählen wenig in einer Favela. Die jugendlichen Banden müssen für ihren Aufstieg in der Favela und in der Drogenhierarchie Stärke zeigen. Vor anderen Jugendlichen, ihrem Boss, den Mädchen. Sie stehen meist selbst unter Drogen. Heldenmut ist immer fehl am Platze.

Aber man kann sich auf diese Art Situationen ja mental vorbereiten. Und hoffen, dass alles trotzdem gut ausgeht. Hoffen.
Wir setzten unsere Erkundung in der Favela dann fort. Schließlich hatte ich mich ja nun „angemeldet“. Nahm ich jedenfalls an 🙂

jeder versucht mit seinem kleinen Gewerbe über die Runden zu kommen
mitten in einer der Gassen auf der Straße – Leben in einer Favela

Ich machte noch ein paar Fotos. Wir kauften Kleinigkeiten, um etwas Umsatz in der Favela dazulassen und wir erwarben 4 Originale von Wark Rocinha aus seiner kleinen Galerie in einer der Nebenstraßen. Hoffend, dass sie einmal sehr viel Wert sein könnten. Für ihn und mich  🙂

in der Galerie von Wark Rocinha
sein Haupt-Motto ist immer wieder: „Jeder kann der Engel eines anderen Menschen sein.“
garantiert bedingt aus eigenen Erfahrungen in der Favela

Wenn es mir gelingt die Schulleitung und Stadt zu überzeugen, würde ich ein Projekt mit ihm (Fassade) und unseren Schülern organisieren. Wenn nicht, vielleicht mit anderen Interessenten. Ich glaube, es wäre eine tolle Erfahrung für alle und eine Bereicherung für jede Fassade, ein Werk von und mit ihm zu erstellen. Zumal die Erträge in seine Stiftung einer Kunstschule in der Favela fließen.

Eine sehr intensive, spannende, erfolgreiche und glimpflich ausgegangene Erkundung. Ich bin für diese Erfahrung sehr dankbar.

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